72. Muss die Geschichte der Hypnose umgeschrieben werden?

Der ehem. Showhypnotiseur Wolfgang Künzel aka Alexander Cain erweckt gerne den Eindruck, dass die Welt der Hypnose sich in einem vermeintlich grundlegenden Irrtum befinde: nämlich, dass James Braid den Ausdruck „Hypnose“ geprägt habe. Künzel scheint es auch so darzustellen, als sei das nun seine Entdeckung. Müssen wir also die Geschichte der Hypnose umschreiben? 

In einem Video (vgl. Art. 73) etwa rechnet Künzel es zu den größten „Lügen und Unwahrheiten“ zum Thema Hypnose, dass Braid die Wörter „Hypnose“ bzw. „hypnosis“ und „hypnotic“ erfunden habe. Denn diese seien bereits zuvor in Gebrauch gewesen. Hierzu zitiert Künzel aus einem etymologischen Wörterbuch.

Bevor ich darauf eingehe, muss noch Zeit für eine Randnotiz sein. Bemerkenswert ist es nämlich, wenn Künzel James Braid im Video als „einen lieben netten Kollegen“ bezeichnet. Hier ist Künzel unaufrichtig. Wissen wir doch genau, dass er sich für die Reinkarnation von James Braid hält, und dies offenbar mit subjektiver Gewissheit (Art. 1). Wie oft kommt es sonst auch vor, dass Künzel einen anderen Hypnotiseur öffentlich lobt? Richtig. Künzels Lob an Braid gilt also – Künzel! („Wie immer halt“, möchte man fast sagen.)

Angesichts dieser Künzelschen Selbstbelobigung werden wohl etliche die Stirn runzeln. Aber ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass Künzel sich tatsächlich ganz genau so sieht: als einen ganz lieben und netten Menschen, der allerdings das Pech hat, von lauter hasserfüllten und boshaften Neidern umgeben zu sein, die ihn völlig grundlos „angreifen“. (Dies ist keine Ironie; ich bin wirklich überzeugt, dass genau das Künzels Wahrnehmung der Dinge ist.)

Doch zur Sache: Was eine Auseinandersetzung mit Künzels Thesen oftmals so unergiebig macht, ist das geringe Wissens- und Reflexionsniveau, das der selbsternannte Begründer der deutschen Hypnosewissenschaft (Art. 2) an den Tag legt. Für die Erörterung der Frage, was Braid nun für Ausdrücke geprägt hat, wäre etwa eine Unterscheidung von Wörtern und Begriffen essentiell. Im Alltag macht man da oft keinen Unterschied, aber in manchen Fällen ist eine Differenzierung unverzichtbar.

Für Begriffe ist die Bedeutung wesentlich. Ein und derselbe Begriff kann auch durch verschiedene Wörter repräsentiert werden (z.B. bezeichnen“Orange“ und „Apfelsine“ dasselbe), was nichts anderes heißt, als dass diverse Worte dieselbe Bedeutung haben können (Synonymie). Umgekehrt können zwei Begriffe dasselbe Wort gemeinsam haben (Homonymie): Beispielsweise kann das Wort „Kreuzer“ sowohl eine Münze als auch ein Schiff bezeichnen, also für zwei Begriffe mit völlig unterschiedlichen Bedeutungen stehen. Zusammengefasst: Wenn mehrere Wörter dieselbe Bedeutung haben, liegt Synonymie vor; beitzt ein Wort mehrere Bedeutungen, so besteht Homonymie.

Bei den Ausdrücken „hypnosis“ und „hypnotic“ scheint nun eine Homonymie zu bestehen. „Hypnotic“ kann „schlaferzeugend“ meinen, aber auch das, was wir als Hypnotiseure darunter verstehen. Dass entsprechende Ausdrücke primär oder ursprünglich mit dem Schlaf im Zusammenhang stehen, ergibt sich nicht nur aus Künzels etymologischem Wörterbuch, sondern deckt sich übrigens auch mit der englischsprachigen Wikipedia, wo es heißt:

„Hypnotic (from Greek Hypnos, sleep) or soporific drugs are a class of psychoactive drugs whose primary function is to induce sleep[1] and to be used in the treatment of insomnia (sleeplessness), or surgical anesthesia.“

[„Hypnotische (vom Griechischen Hypnos, Schlaf) oder einschläfernde Medikamente stellen eine Klasse psychoaktiver Medikamente dar, deren primärer Funktion darin besteht, Schlaf zu induzieren und bei der Behandlung von Insomnie (Schlaflosigkeit ) oder chirurgischer Anästhesie Verwendung zu finden.“]

Entsprechend werden verwandte Ausdrücke auch im Deutschen gebraucht: „Ein Hypnotikum ist ein Schlafmittel. Plural: Hypnotika.“

Wo diese Homonymie herkommt, ist klar: Ursprünglich meinte man, dass Hypnose eine Form des Schlafes sei, und dass „hypnotisieren“ soviel wie „in einen Schlaf“ versetzen sei.

Selbst wenn Braid nicht die Wörter „hypnotic“ und „hypnosis“ geprägt hätte, wäre dies daher erst mal von geringer Relevanz, denn er könnte immer noch die entsprechenden Begriffe in der uns vertrauten und wesentlich neuen Bedeutung geschaffen haben. Er hätte dann zwar hergebrachte Wörter benutzt, ihnen aber (im Lauf der Zeit) einen neuen Gehalt gegeben, mit ihnen also etwas Neues bezeichnet. Und in der Wissenschaft geht es nicht um Wörter, sondern Begriffe/Termini!

Es kommt aber etwas hinzu. Wenn man der englischsprachigen Wikipedia Glauben schenken darf, so hat Braid tatsächlich die Ausdrücke  „hypnosis“ und „hypnotic“ niemals benutzt. Vielmehr sollen diese Begriffe (nicht die Wörter als solche!) in der uns vertrauten Bedeutung von der Schule von Nancy stammen. Was Braid tatsächlich prägte, waren laut Wikipedia die Begriffe „hypnotism“, „hypnotist“ und „hypnotise“ [daraus wohl „hypnotize“]. Dass auch hier die entsprechenden Wörter bereits zuvor in französischer Version in einer anderen Bedeutung im Gebrauch waren, ist aus den dargelegten Gründen irrelevant.

Wir können also die Situation so zusammenfassen:

– Künzel hat zwar recht, dass Braid nicht den Ausdruck „Hypnose“ geprägt hat, aber er kommt eigentlich aus den falschen Gründen zu diesem Schluss, oder besser vielleicht: er verkennt das eigentliche Problem und übersieht die wesentliche Fragestellung.

– Wenn der Wikipedia-Artikel richtig liegt (was ich vermute), dann irrt Künzel, wenn er meint, dass die Wörter „Hypnotismus“ und „hypnotisieren“ auf Braid zurückgehen. Das wird man ihm aber nicht vorwerfen wollen, denn er hat es aus einem etymologischen Wörterbuch (wenn er es korrekt zitiert hat). Immerhin: Es würde womöglich dafür sprechen, dass Künzels Erinnerungen seit seinem früheren Leben als James Braidetwas gelitten hat.

Dass Künzel den gravierende Unterschied von Wörtern und Begriffen und die entscheidende Bedeutung Letzterer völlig verkennt, wird aus allem deutlich; so etwa, wenn er sagt: „Ja also, diese Namen [SIC!], die gab es schon, die sind nicht von James Braid!“.  Demselben Problem sind wir in anderer Form auch gerade in Art. 71 begegnet, wenn Künzel wesentlich verscheidende Bedeutungen des Ausdrucks „nicht identifiziertes Flugobjekt“ offenbar gründlich konfundiert. Aber sich weit aus dem Fenster lehnen und die unwissende Welt belehren, gelle?

Ein Fremdwörterlexikon allein nutzt aber eben nichts, wie Künzels Beispiel beweist. Man muss damit auch umgehen können!

Ganz abgesehen davon:  Ob Braid nun die Wörter und/oder Begriffe „hypnosis“ und „hypnotism“ geprägt hat oder nicht, ist doch nun wirklich eine ziemlich spezielle philologische Frage, die für die Hypnose als solche von ziemlich untergeordnetem Interesse ist. Und auch in der Geschichte der Hypnose gibt es zweifellos spannendere Themen. Die „Geschichte der Hypnose“ muss also sicher nicht umgeschrieben werden, auch wenn Künzel das zu denken scheint.

Im Übrigen gibt es offenbar, wie der Wikipedia-Artikel beweist, Leute, die entsprechende sprachhistorischen Spezial-Probleme völlig unabhängig von Künzel und besser als er abhandeln, auch wenn die dabei gewonnenen Erkenntnisse vielleicht noch nicht überall angekommen sind. Ein „einsamer Rufer in der Wüste“ ist Künzel also sicher nicht, obwohl er es zweifellos zu gerne wäre.

Dass Künzel überhaupt aus so einer Mücke einen Elefanten macht, hat einfach damit zu tun, dass er jede Gelegenheit ausschlachtet, bei der er gegen alle anderen (vermeintlich) recht haben könnte. Künzel als der einzige Wissende unter lauter Unwissenden: diese Vorstellung ist ihm nicht etwa unangenehm oder peinlich, sondern streichelt sein Ego aufs Willkommenste.

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