55. Herr Künzel und die Theorien

Der ehem. Showhypnotiseur Wolfgang Künzel aka Alexander Cain ist der bemerkenswerten Auffassung, daß die „Infektionstheorie“ unbewiesen sei- also die Theorie, nach der verschiedene Krankheiten durch eine Infektion mit Krankheitsrregern wie Bakterien, Viren, Pilze usw. verursacht werden.

Woher „weiß“ er das so genau? Künzel antwortet auf diese Frage wie folgt in seinem Forum:

„Würde die Infektionstheorie noch Infektionstheorie heißen, wenn sie bewiesen wäre? Gibt es eine Theorie, die nach dem Beweis noch Theorie heißt?
Daher nennt man eben keine bewiesenen Behauptungen noch Theorie, da das ein Widerspruch in sich wäre….Die Relativitätstheorie ist übrigens auch nicht bewiesen. Daher heißt auch sie noch ‚Theorie‘.“

Diese Antwort ist einfach, direkt, klar verständlich, und relativ einleuchtend. Und darüber hinaus ist sie leider auch noch falsch.

Es ist tatsächlich so, daß wir den Begriff „Theorie“ im Alltag oft im Sinne einer unbewiesenen Vermutung gebrauchen. Vor allem in Wissenschaft und Wissenschaftstheorie wird der Begriff „Theorie“ jedoch gewöhnlich in einer wesentlich anderen Absicht benutzt, und er soll da keine fehlende Bewiesenheit implizieren.

So definiert beispielsweise bereits die Wikipedia den Begriff „Theorie“ unabhängig von einer (fehlenden) Bestätigung:

„Eine Theorie ist ein von einer oder mehreren Personen hervorgebrachtes System von Sätzen. Oft dienen Theorien dazu, Ausschnitte der Realität zu erklären und auf dieser Grundlage Prognosen über die Zukunft zu erstellen. Aus Prognosen lassen sich wiederum Handlungsempfehlungen ableiten.“

Der springende Punkt wird noch deutlicher bei dem, was die Wikipedia zur Hypothese sagt:

„Anders als im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet ‚Theorie‘ in der Wissenschaft also im Unterschied zur Hypothese eine Aussage oder eine voneinander abhängige Gruppe von Aussagen, die durch empirische Erfahrungen bestätigt wurden (z. B. Relativitätstheorie, Gravitationstheorie, Evolutionstheorie). Eine Behauptung oder ein Leitsatz, der durch wissenschaftliche Beweisführung bewiesen oder widerlegt werden soll, heißt These.“

Nun könnte man natürlich, um Künzel zur Seite zu springen, darauf hinweisen, daß die Wikipedia nicht immer zuverlässig ist. Dennoch hat sie in diesem Fall aber recht, und ein Blick in ein beliebiges Buch zur Wissenschaftstheorie genügt zur Bestätigung.

Was ist also Künzels Fehler? Wieder mal ein Fehlschluss: Künzel hat (richtig) erkennt, daß man unter „Theorie“ im Alltag oft etwas Unbewiesenes versteht. Daraus folgert er dann, daß die „Infektionstheorie“ oder die „Relativitätstheorie“ ebenfalls unbewiesen sind.

Es ist genau so, wie es ein englischsprachiger Text beschreibt: „Laien missverstehen oft die Sprache, die von Wissenschaftlern benutzt wird. Und aus diesem Grund ziehen sie manchmal die falschen Schlüsse, was wissenschaftliche Begriffe bedeuten…Wenn es von etwas heißt, daß es ’nur eine Theorie‘ ist, dann bedeutet das in der Laien-Sprache gewöhnlich, daß es nur eine Vermutung und unbewiesen ist. Es kann sogar fehlende Glaubwürdigkeit bedeuten. Aber in der wissenschaftlichen Begrifflichkeit ist eine Theorie eine Erklärung für ein Phänomen, die allgemein als wahr akzeptiert wird, weil sie durch eine große Menge empirischer [„efahrungsmäßiger“] Evidenz gestützt wird.“

Ein anderes Beispiel: Ich könnte behaupten, daß (tiefe) Hypnose nichts anderes als eine Schlafstörung sei. Beweis: Tiefe Hypnose wird oft als „Somnambulismus“ bezeichnet. „Somnabmbulismus“ bezeichnet nach allgemein anerkannter Definition aber einen Zustand des Schlafes, und zwar einen unnormalen, nämlich eine Schlafstörung („Parasomnie“). Siehe die in diesem Fall wohl unkontroverse Wikipedia-Definition.

Aber der Fehlschluss mit dem Somnambulismus wäre sogar noch eher „korrekt“ als der, den Künzel begeht. Denn „Somnambulismus“ bezeichnet wirklich fast allgemein nur eine Schlafstörung, während der Terminus „Theorie“ durchaus nicht nur eine Vermutung meint, vor allem in der Wissenschaft nicht.

Was lernen wir daraus?

Niemand weiß alles. Es gibt heute so eine Häufung von Wissen, daß selbst dem Gelehrtesten nur einen Bruchteil der verfügbaren Erkenntnisse bekannt sind. Das ist also keine Schande.  Und wenn man sich dennoch für viele Themen interessiert, ist das gut und recht. Bevor man aber alles Mögliche behauptet und sich weit aus dem Fenster lehnt, erkundigt man sich besser etwas genauer. Wenn man einfach nur mal aus irgendwelchen Informationsbrocken oder Missverständnissen alles Mögliche und Unmögliche ableitet, und zwar durch fehlerhafte Schlüsse, dann haben wir ein Problem. So einfach funktioniert das nicht. Man muss sich schon etwas mit der Sache beschäftigen, über die man urteilen möchte, jedenfalls wenn das Urteil kompetent sein soll.

Und hier hapert es bei Künzel – bisher jedenfalls: Man spricht von der „Infektionstheorie“ und der „Relativitätstheorie“, und Künzel schließt daraus, daß es sich nur um umbewiesene Mutmaßungen handelt. Man spricht von „indirekter Hypnose“, und Künzel schließt daraus, daß „das Unterbewusstsein“ dort nicht direkt angesprochen werden soll, usw. So kann man eben nicht schlussfolgern, ohne von einem Missverständnis zum nächsten zu gelangen.

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